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Der geheimnisvolle Klub und der "attentive spectator"

 

Die (naturwissenschaftlichen, philosophischen, psychologischen) Diskurse der Epoche focussieren nun ein neues Phänomen, das Crary unter dem zentralen Begriff „attention“ abhandelt.

Die wörtliche Übersetzung mit „Aufmerksamkeit“ umschreibt nur unzulänglich, worum es geht, nämlich eine psycho-physische Qualität unseres Bewusstseins, die uns befähigt, nicht „steuerlos“ durch den Ozean unserer Wahrnehmungen und Assoziationen zu treiben, sondern unseren Erfahrungen, letztlich unserem Verhalten Struktur und Richtung zu verleihen.

Der Begriff macht eine erstaunliche Karriere in der akademischen und populär-wissenschaftlichen Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und öffnet das Feld für neue Fragen: Kann „attention“ womöglich produziert und von außen gesteuert werden – „through the knowledge and control of external procedures of stimulation as well as a wide-ranging technology of ‚attraction’?5

 

Solche Attraktions-Technologien wurden im 19. Jahrhundert im Bereich der Massenmedien und Massenunterhaltung entwickelt, und ihre avancierteste Erscheinungsform ist um die Jahrhundertwende die Kinematografie. Crary verweist in diesem Kontext auf Tom Gunning: Die Errungenschaft des frühen Kinos liege weniger im Bereich der Repräsentation, der Imitation, der Erzählung oder der Erneuerung der schaustellerischen Performance als in der Strategie, einen „attentive spectator“6 zu fesseln.

Einer Strategie, die auf Sichtbarkeit und Versinnlichung zielt, auf die Durchbrechung des geschlossenen fiktionalen Rahmens, auf die unvorhergesehene „Attraktion“ – kurzum: auf die Bereitschaft des Zuschauers, sich als wahrnehmendes Subjekt überraschen und erregen zu lassen.

 

Der geheimnisvolle Klub ist, im schönen Kontrast zum teils noch recht behäbigen, den internationalen Standards hinterhereilenden Gros der deutschen Filmproduktion vor 1914, ein gelungenes Beispiel für ein Kino perzeptiver Attraktionen, für die Kinematografie als eine Maschine der Sichtbarkeit, die ihre neuen technischen Qualitäten nutzt, um den „attentive spectator“ des bürgerlichen und literarischen Zeitalters auf die Anforderungen und Stimulationen des 20. Jahrhunderts zu orientieren.

Seine „attentiveness“ ist gerichtet auf etwas, das jeglichem Geschichtenerzählen und gar dem Sinn oder der Moral einer Geschichte vorgelagert ist: die unerschöpfliche Visualität der Welt.

 

 

 

 

 

5) Jonathan Crary: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and the Modern Culture. Cambridge/Mass., London: MIT Press 2001, S. 25.

6) ebenda, Anmerkung 34.