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Der geheimnisvolle Klub und der "attentive spectator"

Abbildung 7

 

Man kann nicht behaupten, dass Delmont in diesem Film der Kamera mehr Mobilität entlockt, als zu dieser Zeit in zahlreichen französischen und vor allem US-amerikanischen Actionfilmen zu sehen ist – es gibt einige solide ausgeführte Horizontalschwenks zu bewundern, und wenn Ilse und der Detektiv in der Gracht von ihrem Boot ins Haus des Gegners klettern oder Gerhard sich von einem Balkon ins Boot der Hafenpolizei abseilt, verfolgt die Kamera ihre Aktionen mit einer angedeuteten vertikalen Bewegung. Interessanter sind einige Groß- und Detailaufnahmen (ein zerschossenes Türschloss, die Hand mit der Taschenuhr), sind wechselnde Einstellungsgrößen (z.B. Gerhards Reaktionen beim verhängnisvollen Kartenspiel), ist vor allem die (von Griffith inspirierte) zunehmende Verdichtung des Geschehens, wenn mehrere Handlungsstränge parallel verfolgt und in immer kürzeren Einstellungen auf ihren Höhepunkt getrieben werden. Mobilität ist in diesem Film ein Produkt aus einer Vielzahl dynamischer Operationen, zu denen auch jene Effekte gehören, mit denen die Kamera als Beobachtungsinstanz des Alltäglichen unsere Augen überrascht und, im Idealfall, das Feld unserer Wahrnehmungen erweitert.

 

Eine Großstadtperzeption par excellence mag hier als Beispiel stehen: Mit Delmonts Kamera blicken wir aus einem dunklen Innenraum durch eine halb geöffnete Tür auf die Straße; ein Auto fährt vor und hält. Links neben der Tür befindet sich eine Vitrine, deren Spiegelglas für den Winkel, den die Kamera gewählt hat, die Reflexe des heranfahrenden Autos aus einem gegenüber postierten unsichtbaren Spiegel einfängt (Abbildung 7): Das Licht-und-Schattenspiel auf der Spiegelfläche, die Bewegung der Radspeichen, die irritierenden Verdopplungen schaffen für ein paar Sekunden ein Wahrnehmungsphänomen, das empirische Erfahrung und physikalische Evidenz in Abstraktion aufzulösen scheint: Kino pur. „Wie im Nachhall des plötzlichen Gedankens, daß Aufklärung eines Unheimlichen gerade ins Rollen kam, taucht die nach rechts aus dem Blickfeld herausgefahrene Kutsche für einen Moment nochmals in Bewegung links auf, gespiegelt von dem halbdunklen Grund der seitlich im Schatten liegenden Schaufensterscheibe.“ So interpretiert Heide Schlüpmann diese Einstellung in ihrer ausführlichen Filmanalyse.2

 

Doch das von links hereinfahrende Auto wirft, dank der komplizierten Anordnung der Spiegel, sein Spiegelbild voraus; es verharrt kurz vor dem Eingang, im Glas der Vitrine überlagern sich jetzt zwei Spiegelbilder, van Geldern steigt aus, geht auf die Kamera, d.h. auf den Eingang zu – Schnitt. Der Vorschlag, das visuelle Geschehen mit der „Aufklärung eines Unheimlichen“ zu verknüpfen, bindet das filmsprachliche Raffinement an die „Geschichte“, schließt es gleichsam kurz mit der referierten Moral und weist ihm unter dem Dach einer unterstellten höheren Ordnung einen Stellenwert zu. Dabei ist das, was hier zu sehen ist, zunächst nichts anderes als ein visuelles Ereignis, dessen Aufklärungsqualität sich auf das Vermögen unseres Auges bezieht; das Terrain, auf dem hier etwas gelernt, erfahren und vielleicht verallgemeinert werden kann, ist der Bereich großstädtischer Erfahrung, der Erfahrung von Technizität und Modernität.

 

 

  

 

 

2) Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos. Basel, Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1990, S. 133.